Station 6: Basilika am Weizberg
Andrea Sailer
Leben heißt leiden lernen - Über den Schmerz
Leben. Das kann auch heißen: erleben, durchleben, ausleben, manchmal eben sogar überleben. Leben heißt deshalb für den Empfindsamen auch oft: leiden. Leiden am Leben selbst, an seiner Vergänglichkeit, den Wandlungen, denen es oft unterworfen ist – und die uns nicht selten wie Züchtigungen erscheinen. Schmerz als Strafe für etwas, das wir nicht getan haben? Unglück als Schicksalsschlag, der uns schuldlos trifft? Härtezeiten als ungerechte Botschaften eines zornigen Gottes? Und immer wieder die Frage: warum? Und dann: warum ich?
Leben heißt auch: leiden lernen. Die Schmerzen, die uns zugefügt werden, anzunehmen versuchen, ohne sich ihnen willenlos zu fügen, ber auch, ohne sie zu glorifizieren. Schmerz ist nun einmal etwas, das weh tut. Und Wunden gehen nicht so einfach weg oder lösen sich in Nichts auf, sondern werden zu Narben. Nirgendwo steht geschrieben, dass Narben immer hässlich sind. Sie sind nicht nur Makel der Haut, sondern zugleich auch ein strenger, ernsthafter Schmuck der Seele. Weil nur das Lebendige verwundbar ist, weil nur dort, wo gefühlt wird, auch Schmerz empfunden werden kann.
Wer in seinem Gott nur einen grausamen Herrn erkennen kann, der jene, die ihm anvertraut und ausgeliefert sind, knechtet, wird sich dem Schmerz irgendwann beugen, wird erstarren unter den Schlägen, die ihn treffen, und wird eines Tages – verroht und abgestumpft – nichts mehr fühlen. Ohne Gefühl aber ist Leben nicht möglich. Wir sind wie Skulpturen unter der Hand des Schöpfers; mit jedem Schlag, der uns da trifft, werden wir nicht nur verletzt, sondern auch geformt. Wir erhalten Kontur, bekommen ein eigenes, unverwechselbares Profil. Wir werden einzigartig und nicht mehr austauschbar allein durch die innere Form, die uns Empfindungen geben; nicht nur glückliche Gefühle gehören dazu, sondern auch der Schmerz. Er verwandelt uns, wie nichts sonst uns verwandeln könnte. Doch er verformt uns nicht, entfremdet und entstellt nicht, sondern macht uns zu denen, die wir sind. Nirgendwo begegnen wir uns selbst so intensiv wie im Leiden, im Kummer, in der Verzweiflung und scheinbaren Aussichtslosigkeit. Wir sind nach keinem Schmerz dieselben, wir bleiben niemals stehen, solange wir empfindsam sind.
Viele Gefühle können erst auf der Basis des Schmerzes entstehen. Das abgegriffene Bild von Licht und Schatten, die einander bedingen, lässt sich auch in stimmiger Weise auf die Realität des Leidens übertragen; wir könnten kein Glück empfinden, hätten wir das Unglück nie kennengelernt. Wo niemals Trauer war, kann auch kein Trost sein. Wir wären unfähig zur Dankbarkeit, würden wir nach dem Schmerz nicht auch seine Linderung erfahren. Glauben, und damit ist der Glaube an einen Schöpfer gemeint, der nicht knechten und quälen will, sondern der uns „ganz“ machen möchte, der uns Kontur und Einzigartigkeit verleihen will, kann deshalb auch gleichgesetzt werden mit Hoffnung, mit der unbeirrbaren Zuversicht, die uns über die Abgründe des Schmerzes hinwegträgt. Trauer kann nur in Trost verwandelt werden, wenn wir beides anzunehmen lernen, wissend, dass beides auch aus der Hand eines Gottes kommt, der uns liebt, nicht strafen will. Uns hält ein Netz aus Glück und Schmerz, in dem wir manchmal gefangen sind, manchmal aber auch geborgen.
Wer das Dunkel annimmt, kann auch das Licht annehmen. Der Glaube an eine Kraft, die uns beides gibt, beides zur rechten Zeit und niemals ohne Grund, lässt den Schmerz beizeiten zu einer Gewalt werden, die die größten und notwendigsten Verwandlungen in uns zu vollziehen vermag. So bleibt auch jede Empfindung ein untrügliches Zeichen unserer Lebendigkeit. Auch wenn das manchmal weh tut.
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