Station 2: Evangelische Kirche

 Andrea Sailer

 Wozu Solidarität? - Wir sitzen doch selber längst im Kerker...

Die Zeit, in der wir leben, ist keine Zeit der Freiheit, dafür eine der Freiheiten. Und so sehr unsere Welt eine Welt der Denker geworden ist, eine der Andersdenkenden ist sie deshalb noch lange nicht.

Gefangenschaft ist etwas, das überall stattfinden kann; es gibt beides – Kerker für die Körper, und andere für die Seelen. Viele Gefängnisse erkennen wir nicht einmal mehr als solche, so sehr sind sie uns schon zur Gewohnheit geworden. Eine Gewohnheit allerdings, an die man sich dennoch nie gewöhnen kann. Beizeiten sperren wir uns auch selber ein; die Bretter vorm Kopf, die Scheuklappen auf den Augen, die gebundenen Hände – auch dies sind Feinde der Freiheit. Aber vielleicht ist das gut so, vielleicht wollen wir es gar nicht anders haben

Freiheit, das heißt auch: nichts mehr haben, was einen noch halten (und damit festhalten und einsperren) könnte. Keine Verantwortung, keine Pflicht, dafür alle Freiheiten. Ist es das, was wir wirklich wollen? Manchmal ja. Aber alles, was uns hält, hält uns in vielerlei Weise; hält und fest, hält uns zurück, hält uns von etwas anderem ab, und hält uns doch immer wieder auch sicher, hält uns geborgen, hält uns manchmal sogar warm. Aus jedem Band kann mitunter auch ein Strick werden, gewiß. Doch nur zu oft legen wir uns selbst in Ketten. Aber weil wir moderne Sklaven sind, sind unsere Fesseln nicht selten aus Gold, und die Sträflingsanzüge kommen schon mal vom Designer. Und was dem einen die Gefängniskost, ist dem anderen vielleicht die Diät. Wir müssen einem Bild entsprechen, das uns nicht entspricht – da fängt die Haft schon an. Doch wer übernimmt die Haftung?

Vor lauter eingesperrtsein in unserer eigenen, modernen Gefängnisse vergessen wir auf die , die wirklich gefangen sind, nicht in Schiengefängnissen, sondern in ganz realen Kerkern. Aber was gehen die uns an?

Solidarität rückt mitunter viele Dinge zurercht. Der solidarische Blick auf Ein- und Ausgesperrte durchschaut jegliches Blendwerk. Es ist ein fühlender Blick, der nicht im anteilslosen Betrachten verharrt, sondern auch eigene Sichtweisen neu überdenken lässt. Spiritualität ist etwas, dasnicht nur das eigene Sein betrifft, sondern auch dann besonders erfahrbar wird, wenn es in Bezug gesetzt wird zum Dasein anderer. Das Erleben des Solidarischen, das Einfühlen und Eintauchen in andere Lebenswelten und Existenzen ist eine Form der Gotteserfahrung, die jenen, die ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind, entgehen könnte. Die unüberwindbarsten Grenzen und Mauern befinden sich immer noch, wie zu allen Zeiten, in den Köpfen und Herzen.

Es geht also niemals nur um „irgendwelche Gefängnisse irgendwo“, sondern immer um alles und jeden. Und sind erst einmal die Kerker innerhalb der Menschen verschwunden, wird es auch leichter sein, alles Äußere, das uns real gefangennimmt, aufzubrechen. Jedes ehrliche, solidarische Gefühle für einen Eingesperrten oder Ausgegrenzten ist ein echter Anfang. Und nur damit können irgendwann auch so manche Mauern fallen.

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