Station 4: Heilkräutergarten

Andrea Sailer
Allen Stürmen zum Trotz - Natur als immerwährender Anfang
Wir leben in einer Welt, in der uns das Künstliche von allen Seiten so sehr umgibt, dass uns die Künstlichkeit mittlerweile schon ganz „natürlich“ erscheint. So viel ist Oberfläche, ist Attrappe und Schein, letztlich ist unser Wertesystem in erster Linie an Fassaden und Äußerlichkeiten orientiert. Dennoch hat uns diese Fülle und Vielfalt der (scheinbaren) Möglichkeiten nicht glücklich gemacht. Es muß also um eine andere Vielfalt gehen, es muß noch eine andere Möglichkeit da sein. Und es muß wieder um Inhalte gehen, nicht bloß um die äußere Form.
Die Natur ist etwas, das uns alles im Überfluß bieten kann: Vielfalt, Inhalte, Möglichkeiten. Der Mensch hat sich diese Natur in vielfacher Weise zum Nutzen gemacht; sie dient zur körperlichen Ertüchtigung, zur Fitneß, zum Vergnügen, nicht zuletzt zum physischen Überleben. Die Schöpfung bietet jedoch für den, der in ihr wahrhaft innehält, der sich ihr mit allen Sinnen und aller Unmittelbarkeit öffnet, noch viel mehr: sie lehrt ihn, das Leben selbst in seiner ursprünglichsten Form zu begreifen – und damit auch zu meistern.
Vieles, was uns Menschen Probleme bereitet, womit wir hadern, was unser Dasein vergällt, gibt es in der Natur nicht: Entmutigung, Enttäuschung. Trotz und Selbstmitleid kommen da nicht vor. Eine Spinne, deren Netz zerstört wurde, baut unverzüglich ein neues. Die vom Sturmregen niedergepeitschte Wiese bleibt nicht liegen und verfällt in Wehklagen, sondern richtet ihre Halme wieder auf. Blätter, die der Herbstwind von den Bäumen gefegt hat, kommen im Frühling mit neuem Grün zurück. Und alles, was dem menschlichen Auge unwiederbringlich vernichtet und verloren scheint, stirbt nur „äußerlich“, zieht sich zurück und verschwindet nur, um in verwandelter oder neuer Form wiederzukehren. Verzweifeln, aufgeben – so was kommt in der Natur nicht vor. Es wird mit Beharrlichkeit immer wieder von vorne angefangen, nach jedem Gewitter, jeder Dürre, jedem Frost und jedem Schnee. Es gibt kein Klagen und Lamentieren, kein Fragen – warum?, wozu?, wieso gerade ich?-, und nie wird die eigene Existenz angezweifelt. Jedes Lebewesen erfüllt seinen Sinn, indem es einfach da ist. Es hat einen Sinn und einen Zweck in sich selbst. Weil es ist, wie es ist. Auch dieses Geltenlassen können wir von der Natur lernen. Und dass Schönheit nicht selten erst durch Vielfalt entsteht. So viele Blumen und Pflanzen, so viele verschiedene Tiere, von unscheinbar und klein bis hin zu groß und stark, und jedes hat seinen Platz und seinen Sinn. Die Natur zieht auch keine Grenzen, sondern trägt die Idee einer großen Freiheit in sich. Ein „Bis hierhin und nicht weiter“ gibt es nicht. Der Duft von Blüten, die Heilkraft vieler Kräuter, die Schönheit großer und kleiner Landschaften steht allen zur Verfügung. Allen, die die Einladung annehmen, einmal genauer hinzuschauen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu berühren. Wer sich diesen Reizen öffnen und hingeben kann, der wird zugleich auch sehr viel Künstlichkeit, die ihn umgibt, als bloße Fassade bar aller Inhalte entlarven. Dem wird damit auf einmal nichts mehr schöner, reizvoller und natürlicher vorkommen als die Natur. Es darf nicht länger darum gehen, in welchen Farben geblüht, in welchen Gerüchen geduftet und an welchen Plätzen gewachsen wird, was sich hinüberretten lässt über die harten Winter, die schweren Zeiten, und was mit den Jahren verloren geht; was zählt, ist, dass alles seine Wurzeln hat. Diese zu spüren und ganz auf sie zu vertrauen, allen Stürmen zum Trotz, darauf kommt es an. Dann wird aus keiner Enttäuschung mehr so leicht eine Entmutigung, sondern stattdessen vielleicht sogar eine Chance. Die Natur verstehen, heißt begreifen, dass jederzeit ein Anfang möglich ist.
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